Bias in Usability-Tests erkennen
Usability-Tests gelten als eine der wirkungsvollsten Methoden im nutzerzentrierten Designprozess. Sie ermöglichen direkte Einblicke in das Verhalten, die Erwartungen und die Probleme realer Nutzer:innen im Umgang mit digitalen Produkten. Doch wie alle empirischen Verfahren sind auch Usability-Tests anfällig für systematische Verzerrungen – sogenannte Biases. Diese entstehen, wenn Rahmenbedingungen, Durchführung oder Auswertung des Tests ungewollt Einfluss auf die Ergebnisse nehmen.
Ein scheinbar kleiner Einfluss, etwa ein zustimmendes Nicken der Moderatorin nach einem Klick, kann bereits die Interpretation der Nutzer:innen verändern – und damit auch deren Verhalten im Test. Wenn solche Effekte nicht erkannt oder kontrolliert werden, können sie zu Fehlinterpretationen und suboptimalen Designentscheidungen führen.
Was genau ist ein Bias?
Im Forschungskontext versteht man unter einem Bias eine systematische Verzerrung, die das Ergebnis verfälscht. In Usability-Tests können solche Verzerrungen an vielen Stellen auftreten: in der Art der Fragestellung, in der Zusammensetzung der Testgruppe, in der Interaktion mit der Moderation oder in der Interpretation der Beobachtungen. Ziel der professionellen UX-Forschung ist es deshalb, Biases so früh wie möglich zu erkennen, ihre Auswirkungen zu minimieren und transparent mit Unsicherheiten umzugehen.
Moderationsbias: Wenn Mimik und Formulierung das Verhalten lenken
Ein häufiger, oft unterschätzter Verzerrungseffekt entsteht durch die Art der Moderation. Wenn Moderator:innen Suggestivfragen stellen („War das nicht etwas verwirrend?“) oder mit nonverbalem Verhalten Zustimmung signalisieren, beeinflusst das unbewusst die Testperson. In einem Praxisfall berichtete ein UX-Team, dass Nutzer:innen eine neue Filterfunktion im Online-Shop durchweg als „intuitiv“ bezeichneten. Erst in einer zweiten Testrunde mit neutraler Moderation zeigte sich: Viele hatten die Filter gar nicht vollständig verstanden – wollten aber offensichtlich „die Erwartungen erfüllen“.
Empfehlung: Die Moderation sollte geschult sein, sich zurücknehmen, mit offenen Fragen arbeiten und konsequent nicht-reaktiv bleiben. Ein gelegentliches „Bitte denken Sie weiter laut“ ist hilfreich, sollte aber ebenfalls neutral formuliert sein.
Kontextbias: Wenn die Testumgebung das Verhalten verändert
Stellen wir uns vor, eine App für mobile Arzttermine wird auf einem Desktop getestet – bei Tageslicht, in einem ruhigen Konferenzraum. Die tatsächliche Nutzung findet aber abends, mobil, im hektischen Alltag statt. Solche Unterschiede zwischen Test- und Nutzungskontext führen zu Kontextbias. Nutzer:innen verhalten sich im Test anders als im echten Leben – zum Beispiel sorgfältiger, vorsichtiger oder weniger abgelenkt.
Empfehlung: Je näher der Testkontext dem realen Nutzungskontext kommt, desto valider sind die Erkenntnisse. Remote-Tests im Alltag der Nutzer:innen, Feldtests oder Mobile Setups können hier entscheidende Vorteile bieten.
Reaktivität & Hawthorne-Effekt: Beobachtung verändert Verhalten
Schon die bloße Präsenz eines Beobachters kann das Verhalten von Testpersonen beeinflussen – ein Phänomen, das unter dem Begriff Hawthorne-Effekt bekannt ist. Nutzer:innen zeigen sich besonders bemüht, „richtig“ zu handeln, machen extra langsam oder vermeiden Fehler – nicht aus Absicht, sondern weil sie sich der Beobachtung bewusst sind.
Ein klassisches Beispiel: In einem Usability-Test für eine Verwaltungssoftware fanden sich auffallend wenige Klickfehler – bis man erkannte, dass Testpersonen durch die Kameraüberwachung so vorsichtig agierten, dass sie mehrfach versicherten, „nichts falsch zu machen“.

Empfehlung: Der Test sollte offen kommunizieren, dass nicht die Testperson, sondern das System im Fokus steht. Aussagen wie „Sie können nichts falsch machen – uns interessiert, wie verständlich das Produkt ist“ helfen, Reaktivität zu reduzieren.
Sampling Bias: Wenn die Testgruppe nicht repräsentativ ist
Ein häufiger struktureller Bias entsteht durch die Auswahl der Testpersonen. Wenn ausschließlich technikaffine Kolleg:innen, Studierende oder Freiwillige mit hohem Vorwissen teilnehmen, lassen sich daraus keine belastbaren Rückschlüsse auf die eigentliche Zielgruppe ziehen.
Beispielsweise führte ein Fintech-Unternehmen mehrere Tests mit internen Mitarbeitenden durch – die Bewertung fiel durchweg positiv aus. Erst spätere Tests mit externen Nutzer:innen ab 50 Jahren offenbarten massive Verständnisschwierigkeiten beim Onboarding.
Empfehlung: Die Rekrutierung sollte sich systematisch an der Zielgruppe orientieren – etwa über Personas. Kriterien wie Alter, digitale Vorerfahrung oder Nutzungskontext sollten bewusst ausgewählt und dokumentiert werden.
Confirmation Bias: Wenn man sieht, was man erwartet
Auch die Auswertung von Usability-Tests ist anfällig für Verzerrung. Beobachter:innen neigen dazu, das zu sehen oder zu interpretieren, was sie erwarten – ein klassischer Confirmation Bias. Wenn etwa im Vorfeld die Hypothese aufgestellt wurde, dass eine neue Suchfunktion Probleme macht, wird jede Zögerung entsprechend gedeutet – auch wenn die Ursache woanders liegen könnte.
Empfehlung: Eine strukturierte, mehrperspektivische Auswertung mit Kategorien, Videorückblick und Konsensbildung im Team reduziert subjektive Verzerrungen. Unterschiedliche Einschätzungen sollten diskutiert und dokumentiert werden, anstatt sie „wegzumitteln“.
Fazit: Verzerrungen erkennen heißt Qualität sichern
Bias in Usability-Tests lässt sich nie vollständig vermeiden – aber sehr wohl systematisch reflektieren und begrenzen. Wer die typischen Verzerrungsquellen kennt, kann gezielt gegensteuern und dafür sorgen, dass die erhobenen Daten wirklich das Nutzerverhalten widerspiegeln – und nicht das Testsetting oder die Erwartung des Teams. Validität entsteht nicht von selbst, sondern ist das Ergebnis methodischer Sorgfalt, transparenter Kommunikation und kritischer Reflexion. UX-Research beginnt nicht beim Test – sondern bei der Gestaltung eines verzerrungsarmen Erkenntnisprozesses.
Bias in Usability-Testing: Methodische Herausforderungen und Lösungsansätze
Diese Studien beleuchten verschiedene Formen methodischer und kognitiver Verzerrung in Usability-Tests und zeigen Strategien zur Reduktion dieser Einflüsse auf.
Cognitive Bias in Usability Testing
Beschreibt verschiedene Arten kognitiver Verzerrungen (z.B. Bestätigungsbias, Hawthorne-Effekt), wie sie Usability-Ergebnisse verfälschen und wie Forscher sie erkennen und vermeiden können.
Natesan, D., Walker, M., & Clark, S. (2016). Cognitive bias in usability testing. Journal of Usability Studies. https://doi.org/10.1177/2327857916051015
Usability Evaluations Employing Online Panels Are Not Bias-Free
Untersucht systematische Verzerrungen bei der Nutzung von Online Panels in Usability-Studien und deren Einfluss auf Bewertungsergebnisse.
Maggi, P., Mastrangelo, S., Scelsi, M., et al. (2022). Usability evaluations employing online panels are not bias-free. Applied Sciences, 12(17), 8621. https://doi.org/10.3390/app12178621
Method Bias and Concurrent Verbal Protocol in Software Usability Testing
Zeigt, wie die Methode der gleichzeitigen verbalen Protokollierung das Verhalten und die Ergebnisse beeinflussen kann.
Wright, R. B., & Converse, S. A. (1992). Method bias and concurrent verbal protocol in software usability testing. Proceedings of the Human Factors and Ergonomics Society Annual Meeting, 36(1), 608–612. https://doi.org/10.1177/154193129203601608
Creating a Culture of Self-Reflection and Mutual Accountability
Plädiert für organisatorische Mechanismen zur Bias-Kontrolle, insbesondere in Situationen, in denen Designer ihre eigenen Entwürfe testen.
Rosenzweig, E., Nathan, A., Manring, N., & Racherla, T. R. (2018). Creating a culture of self-reflection and mutual accountability. Journal of Usability Studies. https://doi.org/10.5555/3294038.3294039
Task-Selection Bias: A Case for User-Defined Tasks
Beschreibt, wie die Auswahl von Aufgaben in Tests (z.B. durch den Forscher statt den Nutzer) zu Verzerrungen führt und wie 'User-Defined Tasks' helfen können.
Cordes, R. E. (2001). Task-selection bias: A case for user-defined tasks. International Journal of Human–Computer Interaction, 13(4), 411–429. https://doi.org/10.1207/S15327590IJHC1304_04