Quantitativ vs. qualitativ in der UX
Die UX-Forschung bedient sich zweier grundlegender methodischer Herangehensweisen: quantitativer und qualitativer Verfahren. Während quantitative Methoden auf messbare, statistisch auswertbare Daten zielen, ermöglichen qualitative Methoden ein tieferes Verständnis individueller Erlebnisse und Wahrnehmungen. In der Praxis ergänzen sich beide Zugänge – und sollten nicht als Gegensätze, sondern als komplementäre Perspektiven verstanden werden.
Quantitative Methoden – Wenn Zahlen sprechen
Quantitative Methoden geben Antworten auf Fragen wie: „Wie viele Nutzer:innen klicken auf den Call-to-Action?“, „Wie lange dauert es, ein Formular auszufüllen?“ oder „Welcher Prototyp erzielt die höhere Conversion Rate?“ Die Grundlage dieser Verfahren sind strukturierte Datenformate – zumeist numerisch – die auf Skalen, Zählungen oder Zeitmessungen basieren.
Ein klassisches Beispiel: Ein Team testet zwei Varianten einer Landingpage per A/B-Test. Variante A enthält ein großes Bild, Variante B eine kurze Produktbeschreibung. Nach einer Woche zeigt sich: Die Conversion Rate bei Variante B ist um 12 % höher – ein klarer Hinweis für die Produktverantwortlichen.
Typische quantitative UX-Verfahren:
- Standardisierte Online-Umfragen (z. B. SUS, UEQ)
- Web Analytics (z. B. Bounce Rate, Funnel-Drop-offs)
- Task Success Rate & Time-on-Task
- Session Recordings & Heatmaps
- A/B-Tests und multivariate Tests

Stärken:
Quantitative Verfahren sind skalierbar, objektivierbar und ideal zur Hypothesentestung. Sie eignen sich besonders gut, um Nutzerverhalten in der Breite zu erfassen – etwa bei der Evaluierung von Designvarianten oder im laufenden Produktbetrieb.
Schwächen:
Zahlen erklären nicht das „Warum“. Die bloße Erkenntnis, dass 40 % der Nutzer:innen an einem Schritt abbrechen, sagt nichts über die Gründe aus. Ohne Kontext drohen Fehldeutungen – insbesondere bei komplexem Nutzerverhalten.
Qualitative Methoden – Tiefe statt Breite
Qualitative Methoden richten den Fokus auf subjektive Erlebnisse, Erwartungen und Bedeutungszuschreibungen. Sie liefern kontextuelle, narrative und erklärende Einsichten, die sich nur schwer in Zahlen pressen lassen.
Stellen Sie sich vor: Nutzer:innen brechen ein Formular häufig nach dem zweiten Schritt ab. Die Heatmap zeigt, dass der Mauszeiger auf einem Pflichtfeld stehenbleibt. Ein Interview enthüllt: Die Feldbezeichnung ist missverständlich – „Kundennummer“ wird mit „Bestellnummer“ verwechselt. Solche Einsichten sind durch qualitative Methoden zugänglich.
Typische qualitative UX-Verfahren:
- Leitfadeninterviews oder narrative Interviews
- Feldbeobachtungen und Shadowing
- Thinking-Aloud-Methoden
- Diary Studies und Cultural Probes
- Videoanalyse und qualitative Codierung
Stärken:
Qualitative Methoden liefern reichhaltige Beschreibungen und offenbaren mentale Modelle, emotionale Reaktionen und unartikulierte Bedürfnisse. Sie sind besonders wertvoll in frühen Projektphasen oder bei explorativen Fragestellungen.
Schwächen:
Die Ergebnisse sind nicht generalisierbar und hängen stark von der Auswertungsperspektive ab. Zudem ist der Ressourcenaufwand für Planung, Durchführung und Analyse höher als bei standardisierten Verfahren.
Wann welches Verfahren?
Die Wahl zwischen qualitativem und quantitativem Vorgehen hängt von der jeweiligen Zielstellung ab. Die folgende Tabelle gibt eine erste Orientierung:
Zielstellung | Empfohlener Zugang |
---|---|
Verhalten messen (z. B. Klickpfade) | Quantitativ |
Nutzung verstehen | Qualitativ |
Nutzerzufriedenheit vergleichen | Quantitativ (SUS, NPS) |
Bedürfnisse explorieren | Qualitativ (Interviews) |
Redesign evaluieren | Kombination empfohlen |
Praxisbeispiel:
Ein UX-Team plant ein Redesign für ein Kundenportal. Zunächst führen sie qualitative Interviews mit Bestandskund:innen durch, um Bedürfnisse und Probleme zu verstehen. Daraus entstehen erste Wireframes, die anschließend per A/B-Test auf Klickverhalten und Abbruchquote getestet werden. Durch diese Sequenz entsteht eine Verbindung von Verstehen (qualitativ) und Validieren (quantitativ).
Mixed Methods – das Beste aus beiden Welten
Die kluge Kombination beider Perspektiven ist heute ein zentrales Qualitätsmerkmal in der UX-Forschung. Diese „Triangulation“ ermöglicht es, Schwächen einzelner Verfahren auszugleichen und robuste, differenzierte Entscheidungen zu treffen.
Beispiel: Eine App verzeichnet eine hohe Abbruchrate beim Onboarding (quantitativ). Interviews mit Testnutzer:innen (qualitativ) zeigen: Der Prozess ist zu textlastig und erzeugt Unsicherheit. Lösung: Reduktion von Text, ergänzende visuelle Hilfen – und erneuter Test mit gemessener Erfolgsrate.
Fazit
Quantität liefert Breite, Qualität liefert Tiefe. Wer Nutzerverhalten umfassend verstehen und gestalten will, braucht beide Blickwinkel. Während quantitative Methoden Orientierung durch Messbarkeit bieten, schaffen qualitative Methoden das notwendige Kontextverständnis. Erst ihre Kombination führt zu einem validen, menschenzentrierten UX-Prozess – datenbasiert, empathisch und entscheidungsrelevant.
Quantitative und Mixed-Methods-Ansätze in der UX-Forschung
Diese Arbeiten untersuchen die Kombination und den gezielten Einsatz qualitativer und quantitativer Methoden zur Bewertung der User Experience – von Frameworks und Mapping-Ansätzen bis hin zu praktischen Leitfäden für die Auswertung.
Bridging Quantitative and Qualitative Digital Experience Testing
Entwickelt eine Plattformidee, die quantitative Konversionsanalyse (z. B. A/B-Tests) mit qualitativen UX-Rückmeldungen (z. B. Think-Aloud, Surveys) integriert. Beispiel für multimodale Methodentriangulation.
Kumar, R. (2023). Bridging quantitative and qualitative digital experience testing. In ACM SIGIR. https://doi.org/10.1145/3539618.3591873
The Past, Present, and Future of UX Empirical Research
Metastudie mit Analyse von 400 UX-Studien zeigt einen starken Anstieg von Mixed-Methods-Ansätzen seit 2010.
Robinson, J., Lanius, C., & Weber, R. (2018). The past, present, and future of UX empirical research. Communication Design Quarterly. https://doi.org/10.1145/3188173.3188175
Quantifying User Research
Praktische Anleitung zur quantitativen UX-Forschung inkl. Aufgabenzeiten, Fehlerzahlen und statistischer Auswertung.
Sauro, J., & Lewis, J. R. (2012). Quantifying user research. In Quantifying the User Experience. https://doi.org/10.1016/B978-0-12-384968-7.00002-3