Interviews im UX-Kontext
Interviews gehören zu den zentralen Methoden der qualitativen UX-Forschung. Sie ermöglichen es, subjektive Sichtweisen, Erwartungen und Nutzungserfahrungen direkt aus erster Hand zu erfassen. Gerade in frühen Projektphasen – etwa bei der Anforderungserhebung oder Konzeptentwicklung – liefern Interviews wertvolle Erkenntnisse, die mit rein quantitativen Methoden kaum zugänglich wären.
Im Gegensatz zu standardisierten Fragebögen bieten Interviews Flexibilität: Interviewer:innen können auf Antworten eingehen, nachfragen und damit mentale Modelle, Frustrationen und Bedürfnisse vertiefend verstehen. Ein Interview mit einer Nutzerin einer Gesundheits-App kann beispielsweise offenbaren, dass sie sich zwar technisch zurechtfindet, aber Datenschutzbedenken hat, die ihre Nutzung beeinflussen – ein Aspekt, der in Nutzungsstatistiken unsichtbar bliebe.
Interviewformen im Vergleich
Je nach Zielsetzung und Projektphase kommen unterschiedliche Interviewformate zum Einsatz:
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Explorative Interviews eignen sich besonders, wenn es darum geht, neue Themenfelder zu erkunden. Sie sind offen gehalten und folgen keiner festen Struktur. Beispiel: „Was fällt Ihnen beim Thema digitale Bildung spontan ein?“ – So lassen sich unbekannte Nutzungskontexte oder latente Bedürfnisse identifizieren.
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Leitfadeninterviews sind halbstrukturiert: Ein Fragenkatalog sorgt für Vergleichbarkeit, lässt aber Spielraum für spontane Vertiefung. So kann ein UX-Team etwa bei der Evaluation einer Banking-App gezielt nach Erfahrungen mit dem Login-Prozess fragen, aber bei Bedarf auf individuelle Geschichten eingehen.
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Strukturierte Interviews orientieren sich an festen Fragen mit definierten Antwortoptionen. Sie sind vor allem dann sinnvoll, wenn Daten vergleichbar und standardisierbar sein sollen – etwa im Rahmen größerer Benchmarking-Studien.

Aufbau eines nutzerzentrierten Interviewleitfadens
Ein durchdachter Leitfaden hilft dabei, Interviews konsistent, fokussiert und nutzerorientiert zu führen. Bewährt hat sich das Trichtermodell: von allgemeinen zu spezifischeren Fragen.
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Einleitung & Warm-up
Zunächst sollte eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre geschaffen werden. Eine kurze Vorstellung („Wir möchten mehr darüber erfahren, wie Sie mit Produkt X arbeiten“) und einige einfache Einstiegsfragen („Wie sind Sie auf das Produkt aufmerksam geworden?“) senken die Hemmschwelle. -
Hauptteil
Hier stehen konkrete Nutzungserfahrungen im Fokus. Statt „Fanden Sie die App gut?“ wären differenzierende Fragen hilfreicher, z. B.:
„Welche Funktion nutzen Sie am häufigsten – und warum?“
„Gab es eine Situation, in der Sie sich unsicher gefühlt haben?“ -
Abschluss
Am Ende sollte Raum für eigene Ergänzungen bleiben: „Gibt es etwas, das wir noch nicht angesprochen haben, das Ihnen aber wichtig ist?“ – Solche offenen Fragen fördern spontane Einsichten, die im Leitfaden nicht vorgesehen waren.
Gute Fragen – und was man vermeiden sollte
Die Qualität eines Interviews hängt wesentlich von den Fragen ab. Besonders bewährt haben sich:
- Offene Fragen: „Was war Ihr erster Eindruck, als Sie das Interface gesehen haben?“
- Narrative Fragen: „Können Sie beschreiben, wie Sie die letzte Buchung vorgenommen haben?“
- Vergleichsfragen: „Wie unterscheidet sich Ihre Nutzung auf dem Smartphone im Vergleich zum Desktop?“
- Hypothetische Fragen: „Stellen Sie sich vor, Sie müssten die App jemandem erklären – wie würden Sie das machen?“
- Reflexive Nachfragen: „Sie sagten, das war verwirrend – woran haben Sie das gemerkt?“
Ungeeignet sind Suggestivfragen („Sie fanden die Funktion also eher schlecht?“) oder Ja-/Nein-Fragen, da sie nur oberflächliche Antworten provozieren.
Auswertung qualitativer Interviewdaten
Nach der Durchführung beginnt die systematische Analyse. Häufig werden die Interviews transkribiert (also verschriftlicht) und anschließend codiert – das heißt, bestimmte Aussagen werden thematisch markiert und in Kategorien eingeordnet.
Ein Beispiel: In Interviews mit Nutzer:innen einer Mobilitäts-App taucht mehrfach der Wunsch nach besserer Haltestellenanzeige auf. Diese Aussagen lassen sich unter dem Code „Informationsbedürfnis unterwegs“ zusammenfassen – und bilden eine evidenzbasierte Grundlage für Designentscheidungen.
Tools wie MAXQDA, ATLAS.ti, Dedoose oder einfache Excel-Tabellen können je nach Projektumfang eingesetzt werden. Besonders bei interdisziplinären Teams ist es hilfreich, wenn mehrere Personen codieren und ihre Ergebnisse abgleichen (Stichwort: Interrater-Reliabilität).
Fazit
UX-Interviews bieten tiefe Einblicke in die subjektive Nutzungsperspektive – und sind daher ein unverzichtbarer Bestandteil nutzerzentrierter Entwicklung. Richtig geplant, durchgeführt und ausgewertet, liefern sie nicht nur Daten, sondern echte Einsichten, die den Gestaltungsspielraum erweitern und die Qualität digitaler Produkte nachhaltig verbessern.
UX-Interviews: Methoden, Technologien und Perspektiven
Diese Beiträge untersuchen Interviewverfahren zur qualitativen UX-Erhebung – von klassischen Tiefeninterviews über KI-gestützte Systeme bis hin zu reflektierenden Metaperspektiven der Forschungspraxis.
Uncovering the User Experience with Critical Experience Interviews
Passt das Critical Decision Method-Verfahren an UX-Interviews an. Liefert tiefe Einblicke in emotionale und kontextuelle Erfahrungen von Nutzern.
Mannonen, P., Aikala, M., Koskinen, H., & Savioja, P. (2014). Uncovering the user experience with critical experience interviews. In OzCHI. https://doi.org/10.1145/2686612.2686684
InsightPulse: An IoT-Based System for User Experience Interview Analysis
Technologisches Tool zur Echtzeit-Analyse und Themenextraktion bei UX-Interviews. Unterstützt Interviewer durch KI-generierte Fragen und Zusammenfassungen.
Lyu, D., Lü, Y., He, J., Abrar, M. M., Xie, R., & Raiti, J. (2024). InsightPulse: An IoT-based system for user experience interview analysis. arXiv. https://doi.org/10.48550/arxiv.2410.00036
Chasing UX Research
Empirische Fallstudie in einem Tech-Konzern mit Fokus auf Integration qualitativer UX-Interviews in agile Entwicklungsprozesse.
Bartolotta, M., & Kotecka-Ravasi, K. (2017). Chasing UX research. [Master's Thesis].
Attitudes Towards User Experience (UX) Measurement
Nutzt Interviews mit UX-Professionals zur Reflexion über Messbarkeit von UX und Interviewmethoden. Sehr hilfreich für Metaperspektiven.
Law, E. L.-C., van Schaik, P., & Roto, V. (2014). Attitudes towards user experience (UX) measurement. International Journal of Human-Computer Studies. https://doi.org/10.1016/j.ijhcs.2013.09.006