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Heuristische Evaluation nach Nielsen

Die heuristische Evaluation ist ein etabliertes Verfahren zur Analyse der Gebrauchstauglichkeit digitaler Produkte – vom Website-Prototyp bis zur fertigen App. Sie wurde Anfang der 1990er-Jahre von Jakob Nielsen und Rolf Molich entwickelt und beruht auf der Annahme, dass erfahrene UX-Fachleute viele Usability-Probleme bereits identifizieren können, ohne dass reale Nutzer:innen das System bedienen müssen. Grundlage der Methode sind sogenannte Usability-Heuristiken – allgemeine Prinzipien guter Interfacegestaltung, wie z. B. Konsistenz, Fehlervermeidung oder Systemfeedback.


Wann und warum wird heuristisch evaluiert?

Heuristische Evaluationen kommen typischerweise in frühen Phasen der Produktentwicklung zum Einsatz. Beispielsweise wird ein interaktiver Prototyp eines Online-Shops vor dem ersten Nutzertest von einem UX-Team überprüft. Dabei fällt auf, dass das Warenkorbsymbol in der mobilen Ansicht schwer erkennbar ist und Rückmeldungen nach dem Hinzufügen eines Produkts ausbleiben – Verstöße gegen mehrere Heuristiken. Diese Probleme lassen sich früh und kostengünstig beheben, noch bevor reale Nutzer:innen in Tests damit konfrontiert werden.

Das Ziel ist stets, Usability-Probleme möglichst frühzeitig zu entdecken, um spätere Korrekturen zu vermeiden. Die Methode eignet sich für Webseiten, Apps, komplexe Tools, aber auch für interaktive Hardware – überall dort, wo Nutzerinteraktion eine Rolle spielt.


So läuft eine heuristische Evaluation ab

Ein heuristischer Evaluationsprozess folgt meist einem systematischen Ablauf:

  1. Briefing der Evaluierenden
    Bevor das Interface analysiert wird, sollten Zielgruppe, Nutzungskontext und typische Aufgaben klar definiert werden. Beispielsweise: “Das System richtet sich an Erstnutzer:innen mit geringer technischer Affinität und soll für den Einstieg in Onlinebanking optimiert werden.”

  2. Individuelle Begutachtung
    Mehrere UX-Expert:innen (ideal: 3–5) durchlaufen das Interface unabhängig voneinander. Dabei prüfen sie anhand konkreter Aufgaben, ob die Bedienung intuitiv, verständlich und effizient ist.

  3. Anwendung der Heuristiken
    Bei der Bewertung orientieren sie sich an den 10 Usability-Heuristiken von Nielsen (siehe unten).

  4. Protokollierung der Probleme
    Jedes gefundene Problem wird dokumentiert – oft mit Screenshots, betroffener Heuristik, kurzer Beschreibung und einem Schweregrad.

  5. Zusammenführung und Konsolidierung
    In einem gemeinsamen Auswertungsschritt werden die Befunde verglichen, konsolidiert und priorisiert.

  6. Ableitung von Handlungsempfehlungen
    Aus den Erkenntnissen werden konkrete Designverbesserungen abgeleitet – etwa zur Umgestaltung von Buttons, Vereinfachung von Dialogen oder Ergänzung von Feedbackmechanismen.

UX Researcher diskutieren Ergebnisse
Heuristische Evaluation in der Praxis: UX-Fachleute analysieren ein Interface anhand definierter Prinzipien und dokumentieren Usability-Probleme.

Die 10 Heuristiken nach Nielsen – mit Beispielen

  1. Sichtbarkeit des Systemstatus
    Nutzer:innen sollen stets erkennen können, was das System tut.
    Beispiel: Nach dem Klick auf „Speichern“ fehlt ein Ladeindikator – das System scheint zu hängen.

  2. Übereinstimmung zwischen System und realer Welt
    Sprache, Symbole und Abläufe sollten an bekannte Konzepte anknüpfen.
    Beispiel: Statt „Download abschließen“ wird „Übertragungsentität finalisieren“ angezeigt.

  3. Benutzerkontrolle und Freiheit
    Nutzer:innen müssen Fehler leicht rückgängig machen können.
    Beispiel: Kein „Abbrechen“-Button im Bestellprozess.

  4. Konsistenz und Standards
    Gleiches sollte gleich aussehen und sich gleich verhalten.
    Beispiel: Auf einer Seite bedeutet ein roter Button „löschen“, auf der nächsten „zurück“.

  5. Fehlervermeidung
    Das System sollte helfen, Fehler gar nicht erst zu machen.
    Beispiel: Ein Formular akzeptiert Passwort ohne Hinweis auf Mindestlänge – Fehlversuch vorprogrammiert.

  6. Wiedererkennung statt Erinnerung
    Informationen sollten sichtbar statt versteckt sein.
    Beispiel: Die Preisangabe verschwindet nach dem Wechsel zur Bezahlseite.

  7. Flexibilität und Effizienz
    Fortgeschrittene Nutzer:innen sollten über Shortcuts oder Filter schneller ans Ziel kommen.
    Beispiel: Keine Möglichkeit, mehrere E-Mails auf einmal zu markieren oder zu löschen.

  8. Ästhetisches und minimalistisches Design
    Keine überflüssigen Inhalte, die vom Wesentlichen ablenken.
    Beispiel: Vier Call-to-Actions in unterschiedlichem Stil auf einer Landingpage.

  9. Hilfestellung bei Fehlern
    Fehlermeldungen sollten verständlich und hilfreich sein.
    Beispiel: „Fehlercode 1327“ statt „Bitte geben Sie eine gültige E-Mail-Adresse ein.“

  10. Hilfe und Dokumentation
    Falls notwendig, sollte Unterstützung schnell verfügbar sein.
    Beispiel: Kein Hilfelink bei komplexer Filterfunktion.


Bewertung der Probleme

Um Probleme einordnen zu können, werden sie typischerweise nach Schweregrad klassifiziert. Ein orientierendes Schema lautet:

SchweregradBedeutung
0Kein Problem
1Kosmetisch – nur bei Zeitüberschuss beheben
2Geringe Priorität – beheben, wenn möglich
3Hoch – sollte behoben werden
4Kritisch – muss behoben werden

Ein Beispiel aus der Praxis: In einem Verwaltungsportal wird ein Pflichtfeld nicht ausreichend visuell hervorgehoben. Der Fehler wird mit „3“ bewertet, da viele Testpersonen den Schritt überspringen und ein frustrierender Fehlerdialog folgt.


Vorteile und Grenzen der Methode

Die heuristische Evaluation ist besonders beliebt, weil sie schnell, vergleichsweise günstig und wiederholbar ist. Sie kann bereits in der Wireframe-Phase eingesetzt werden und liefert erste Hinweise auf strukturelle Schwächen – ohne dass bereits funktionale Prototypen oder reale Nutzer:innen erforderlich sind.

Allerdings bleibt die Perspektive expertenzentriert. Das bedeutet: Die Ergebnisse spiegeln nicht notwendigerweise die tatsächlichen Probleme echter Nutzer:innen wider – insbesondere dann nicht, wenn diese sehr unerfahren, eingeschränkt oder kontextspezifisch handeln.

Deshalb gilt: Heuristische Evaluationen sind kein Ersatz für Usability-Tests, aber eine wirksame Ergänzung.


Fazit

Die heuristische Evaluation nach Nielsen ist ein praxisnahes, bewährtes Verfahren, das sich vor allem zur ersten Qualitätsprüfung von Interfaces eignet. Sie fördert systematische Diskussionen im Team, schafft eine strukturierte Basis für Verbesserungen – und ist besonders dann wertvoll, wenn sie in einen iterativen, nutzerzentrierten Prozess eingebettet ist.

Aktuelle Forschung zur heuristischen UX-Evaluation

Diese Beiträge bieten systematische Literaturübersichten, praxisnahe Fallstudien und methodologische Weiterentwicklungen im Bereich heuristischer UX-Evaluation.

Heuristic-Based Usability Evaluation Support: A Systematic Literature Review and Comparative Study

Bietet einen umfassenden Überblick über Werkzeuge und Methoden der heuristischen Evaluation und identifiziert Defizite in der Softwareunterstützung – hilfreich zum Verständnis methodischer Rahmenbedingungen.

Fernández, J., & Macías, J. A. (2021). Heuristic-based usability evaluation support: A systematic literature review and comparative study. International Conference on Human-Computer Interaction. https://doi.org/10.1145/3471391.3471395

DOI

The Use of Heuristic Evaluation on UI/UX Design: A Review to Anticipate Web App’s Usability

Literaturübersicht von 455 Artikeln über UI/UX-Heuristiken. Zeigt, wie heuristische Evaluation nutzerzentrierte Designentscheidungen unterstützt.

Ramadhanti, N. T., Budiyanto, C. W., & Yuana, R. A. (2023). The use of heuristic evaluation on UI/UX design: A review to anticipate web app’s usability. AIP Conference Proceedings. https://doi.org/10.1063/5.0105701

DOI

Heuristic Evaluation of UI/UX to Enhance Experience and Sales in E-commerce

Zeigt den praktischen Einsatz von Nielsens Heuristiken im kommerziellen UX-Kontext mit nachweisbaren Verbesserungen in UI und Nutzerzufriedenheit.

Andika, R., & Renaldi, D. (2024). Heuristic evaluation of UI/UX to enhance experience and sales in e-commerce. bit-Tech, 7(2). https://doi.org/10.32877/bt.v7i2.1730

DOI

An Experimental Activity to Develop Usability and UX Heuristics

Beschreibt einen domänenspezifischen Ansatz zur Weiterentwicklung von Nielsens Heuristiken für mobile Anwendungen – mit Fokus auf experimentellen Methoden.

Reis, P., Páris, C., & Gomes, A. (2020). An experimental activity to develop usability and UX heuristics. In Lecture Notes in Computer Science. https://doi.org/10.1007/978-3-030-66919-5_3

DOI

Coherent Heuristic Evaluation (CoHE): Toward Increasing the Effectiveness of Heuristic Evaluation for Novice Evaluators

Thematisiert Herausforderungen bei der Anwendung heuristischer Evaluation durch Laien und stellt ein schrittweises Rahmenmodell zur Erhöhung der Bewertungsgenauigkeit vor.

Abulfaraj, A., & Steele, A. (2020). Coherent heuristic evaluation (CoHE): Toward increasing the effectiveness of heuristic evaluation for novice evaluators. International Conference on Human-Computer Interaction. https://doi.org/10.1007/978-3-030-49713-2_1

DOI