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Pluralsight Inspection / Expert Review

Ein Expert Review, auch bekannt als Pluralsight Inspection, ist eine praxisnahe UX-Methode, bei der erfahrene Fachpersonen eine Benutzeroberfläche auf Basis ihres Wissens über Usability-Prinzipien, Best Practices und Designkonventionen bewerten. Anders als bei heuristischen Evaluationen arbeiten die Prüfenden hierbei ohne fest vorgegebene Kriterienkataloge, sondern orientieren sich an kontextabhängigen Gestaltungsprinzipien, Guidelines und ihrer eigenen beruflichen Erfahrung. Ziel ist es, potenzielle Usability-Probleme frühzeitig zu identifizieren – und das schnell, systematisch und ohne Nutzertests.


Typischer Ablauf und Anwendungsbeispiel

Ein Expert Review beginnt in der Regel mit einer kurzen Zielklärung: Welche Anwendung soll geprüft werden? Wer sind die primären Nutzer:innen? Gibt es spezifische Aufgaben, die besonders kritisch sind? Auf dieser Basis erfolgt die eigentliche Analyse – entweder durch eine Einzelperson oder im Team.

Ein typisches Szenario:
Ein UX-Team möchte vor der Veröffentlichung einer neuen Banking-App eine Einschätzung zur Benutzerführung und zur Verständlichkeit zentraler Funktionen einholen. Zwei interne UX-Expert:innen und eine externe Beraterin erhalten Zugriff auf einen klickbaren Prototyp und den Auftrag, typische Aufgaben aus Sicht einer ungeübten Nutzer:in zu durchlaufen – beispielsweise „Überweisung anlegen“ oder „Kontoauszug finden“. Dabei achten sie besonders auf Verständlichkeit, visuelle Hierarchie, Feedback bei Eingaben und mögliche Barrieren bei der Erlernbarkeit.

Nach der Durchsicht dokumentieren die Beteiligten ihre Erkenntnisse in strukturierter Form – z. B. als Tabelle mit Spalten für „Befund“, „Betroffene Stelle“, „Begründung“ und „Verbesserungsvorschlag“. Häufig werden Screenshots ergänzt, Problemstellen priorisiert und konkrete Empfehlungen abgeleitet. Die Ergebnisse dienen dann als Grundlage für Designentscheidungen im weiteren Prozess.

UX Researcher diskutieren Ergebnisse
UX-Team arbeitet mit Persona-Profilen: Empathische Nutzerbilder fördern gemeinsame Designentscheidungen.

Bewertungskriterien: Was wird geprüft?

Auch wenn keine Checkliste vorgeschrieben ist, orientieren sich Expert Reviews typischerweise an folgenden Prinzipien:


Stärken und Grenzen

Der größte Vorteil von Expert Reviews liegt in ihrer Schnelligkeit und geringen Ressourcennutzung. Sie lassen sich bereits in frühen Designphasen – etwa bei Wireframes oder interaktiven Prototypen – durchführen und liefern innerhalb weniger Stunden fundierte Hinweise auf Verbesserungspotenziale.

Allerdings handelt es sich um subjektive Bewertungen, die stark von der Erfahrung der beteiligten Personen abhängen. Zudem fehlt die Perspektive tatsächlicher Nutzer:innen. Gerade im Vergleich zu Usability-Tests, bei denen echtes Verhalten beobachtet wird, können Expert Reviews nur Hypothesen generieren – nicht aber Nutzererleben empirisch belegen. Deshalb ist es empfehlenswert, Expert Reviews stets mit anderen Methoden zu kombinieren, etwa mit Think-Aloud-Tests oder quantitativen Befragungen.


Wann lohnt sich ein Expert Review?

Ein Beispiel aus der Praxis:
Ein Softwareunternehmen führt monatliche UX-Reviews durch, bei denen wechselnde Teammitglieder (Design, Entwicklung, Produktmanagement) jeweils eine Funktion kritisch durchleuchten. Diese werden als „Mini-Expert Reviews“ organisiert – ohne großen formellen Rahmen, aber mit klarer Fokussierung auf eine Nutzerperspektive. Die Erkenntnisse werden dann mit Supportdaten und Nutzerfeedback trianguliert.


Fazit

Ein Expert Review ist kein Ersatz für echte Nutzungstests – aber ein effizientes Werkzeug zur Qualitätssicherung und zur frühzeitigen Identifikation offensichtlicher Probleme im Interface. Insbesondere im agilen Umfeld oder bei limitierten Ressourcen kann diese Methode wertvolle Impulse liefern. Entscheidend ist jedoch: Die Qualität eines Reviews steht und fällt mit der Expertise und methodischen Reflexion der Beteiligten.

Usability-Inspektionsmethoden: Heuristiken, Walkthroughs und Expert Reviews

Diese Literaturauswahl behandelt klassische und weiterentwickelte Methoden der Usability-Inspektion – von heuristischen Verfahren über kognitive Walkthroughs bis hin zu pluralistischen und vergleichenden Expert Reviews.

Heuristic Analysis, Cognitive Walkthroughs & Expert Reviews

Gibt einen prägnanten Überblick über verschiedene Inspektionsmethoden und beschreibt die Expert Review detailliert als kostengünstige Alternative zu Usability-Tests mit Nutzern.

Privitera, M. B. (2019). Heuristic analysis, cognitive walkthroughs & expert reviews. In Design Controls for the Medical Device Industry (pp. 215–236). https://doi.org/10.1016/B978-0-12-816163-0.00010-4

DOI

Comparative Expert Reviews

Vergleicht Expert Reviews mit Usability-Tests und zeigt systematisch Stärken und Schwächen im UX-Kontext auf.

Molich, R., & Jeffries, R. (2003). Comparative expert reviews. In CHI Conference on Human Factors in Computing Systems. https://doi.org/10.1145/765891.766148

DOI

Usability Inspection Methods After 15 Years of Research and Practice

Historische und methodologische Einordnung der wichtigsten Inspektionsmethoden, inkl. Pluralistic Review.

Hollingsed, T., & Novick, D. G. (2007). Usability inspection methods after 15 years of research and practice. In ACM SIGDOC. https://doi.org/10.1145/1297144.1297200

DOI

A Measurement Design for the Comparison of Expert Usability Evaluation and Mobile Apps Users Reviews

Stellt ein Framework vor, um Ergebnisse von Expert Reviews mit Nutzerbewertungen zu triangulieren.

Genc-Nayebi, N., & Abran, A. (2018). A measurement design for the comparison of expert usability evaluation and mobile apps users reviews. ScienceSpace. CEUR

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