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Feldstudien & kontextuelle Beobachtung

Feldstudien und kontextuelle Beobachtungen zählen zu den zentralen qualitativen Verfahren der UX-Forschung. Sie dienen dem Ziel, tatsächliche Nutzungssituationen direkt im natürlichen Kontext zu erfassen – beispielsweise am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum oder zu Hause. Anders als im Labor oder bei Remote-Tests erlaubt diese Methode einen unverfälschten Blick auf das Zusammenspiel von Nutzerverhalten, Umgebungseinflüssen und systemischen Rahmenbedingungen.

Ein typisches Beispiel aus der Praxis: Ein UX-Team beobachtet Pflegekräfte beim Einsatz einer mobilen Pflegedokumentations-App direkt auf der Station. Dabei fällt auf, dass Eingaben häufig nicht vollständig abgeschlossen werden – nicht aus Mangel an Verständnis, sondern weil die Fachkräfte durch Patient:innen, Kolleg:innen oder Alarme unterbrochen werden. Solche Einsichten lassen sich kaum durch klassische Usability-Tests im Labor gewinnen.


Was macht Feldstudien besonders?

Feldstudien sind explorativ angelegt. Sie starten häufig mit einer offenen Fragestellung – etwa: „Wie nutzen unsere Kund:innen die App in ihrem Alltag?“ – und nähern sich der Antwort durch Beobachtung, Mitschrift und Gespräche vor Ort. Neben dem Verhalten werden auch äußere Einflüsse dokumentiert: Lichtverhältnisse, Geräuschpegel, Gruppendynamik, Arbeitsroutinen oder der Einsatz von Hilfsmitteln.

Zu den typischen Methoden zählen:


Praxisbeispiel: Smart-Home-Forschung

Ein Entwicklungsteam testet ein neues User Interface für ein Smart-Home-System. In Interviews geben Nutzer:innen an, die Steuerung sei „eigentlich einfach“. Die Feldbeobachtung zeigt jedoch ein anderes Bild: Viele Befehle werden per Sprachsteuerung nicht erkannt, was zu Frustration führt. Die Nutzer:innen wechseln daraufhin zum manuellen Schalten am Gerät – ein Umgehungsverhalten, das im Usability-Test nicht aufgefallen war. Erst die Beobachtung im häuslichen Kontext macht deutlich, wie stark Umgebungsgeräusche, WLAN-Verzögerungen oder Tagesroutinen die Nutzung beeinflussen.

Ärger mit Smart Home
Realität im Smart-Home: Wenn Sprachbefehle scheitern, greifen Nutzer:innen zur manuellen Steuerung – Erkenntnis aus der Feldbeobachtung.

Vorteile und Herausforderungen

Der größte Mehrwert von Feldstudien liegt in ihrer ökologischen Validität – also der Nähe zur realen Nutzungssituation. Sie decken nicht nur konkrete Probleme auf, sondern auch latente Bedürfnisse, implizite Routinen und kreative Workarounds, die in strukturierten Tests oft verborgen bleiben. So zeigen sie auch, was nicht passiert – etwa Funktionen, die zwar technisch vorhanden, aber nie genutzt werden.

Gleichzeitig sind sie mit Herausforderungen verbunden: Der Zugang zum Feld (z. B. in sicherheitskritischen oder medizinischen Umgebungen) erfordert oft Genehmigungen, Datenschutzvorkehrungen und zeitliche Flexibilität. Beobachtende müssen sensibel und unaufdringlich agieren – ohne in Abläufe einzugreifen. Zudem besteht das Risiko des Observer Bias: Was man sieht, ist immer auch durch den eigenen Hintergrund gefiltert.


Wann ist der Einsatz sinnvoll?

Feldstudien und kontextuelle Beobachtungen sind besonders wertvoll in frühen Phasen von Projekten, in denen es darum geht, ein tiefes Verständnis für reale Nutzungskontexte zu gewinnen. Typische Einsatzszenarien sind:

Feldstudie auf einer Baustelle
UX-Feldstudie in Aktion: Eine Forscherin beobachtet die Nutzung einer App direkt im realen Arbeitsumfeld auf einer Baustelle – ohne den Ablauf zu unterbrechen.

Fazit

Feldstudien und kontextuelle Beobachtungen eröffnen einen Zugang zu der „wirklichen Nutzung“ jenseits der Testumgebung. Sie machen sichtbar, was Nutzer:innen wirklich tun – nicht nur, was sie sagen. Ihre Erkenntnisse helfen, Produkte und Services fundiert, realitätsnah und nutzerzentriert weiterzuentwickeln.

Feldstudien in der UX-Forschung

Diese Beiträge beleuchten klassische und alternative Methoden der Feldforschung in der Usability-Evaluation, einschließlich ethnographischer Techniken, internationaler Kontexte und praktischer Studien 'in the wild'.

Field Studies

Grundlagentext zur Feldforschung – beschreibt verschiedene Formen wie ethnographische Beobachtung und kontextuelle Interviews. Bietet praxisnahe Anleitungen und strategische Hinweise.

Baxter, K. (2015). Field studies. In Understanding Your Users (2nd ed.). Amsterdam: Morgan Kaufmann. https://doi.org/10.1016/B978-0-12-800232-2.00013-4

DOI

Alternative Methods for Field Usability Research

Vergleich von drei Feldmethoden: Kontextuelle Befragung, ethnografische Interviews und Feld-Usability-Tests. Hilft bei der methodischen Auswahl.

Kantner, L., Sova, D. H., & Rosenbaum, S. (2003). Alternative methods for field usability research. In SIGDOC. https://doi.org/10.1145/944868.944883

DOI

Usability Evaluation of a Collaborative Design Software in the Wild

Zeigt anhand einer Feldstudie, wie kontextuelle Beobachtungen den Einsatz kollaborativer Software realistischer bewerten können.

Geszten, D., Hamornik, B. P., & Hercegfi, K. (2019). Usability evaluation of a collaborative design software in the wild. In IEEE CogInfoCom. https://doi.org/10.1109/COGINFOCOM47531.2019.9089963

DOI

Field Usability Testing: Method, Not Compromise

Stellt zwei Modelle des Feld-Usability-Testings (ethnographisch und strukturiert) anhand konkreter Fallstudien vor.

Rosenbaum, S., & Kantner, L. (2007). Field usability testing: Method, not compromise. In IPCC. https://doi.org/10.1109/IPCC.2007.4464060

DOI

International Contextual Field Research

Diskutiert Herausforderungen und Strategien bei internationalem Einsatz kontextueller Feldstudien.

Siegel, D. A., & Dray, S. M. (2011). International contextual field research. In Usability and Internationalization. https://doi.org/10.1007/978-0-85729-304-6_5

DOI