Videoanalyse & Coding
Die qualitative Videoanalyse ist ein zentrales Instrument der UX-Forschung, wenn es darum geht, reale Nutzungsvorgänge detailliert zu rekonstruieren. Statt sich allein auf Fragebögen oder Metriken zu stützen, analysieren Forscher:innen hier, was Nutzer:innen tatsächlich tun, sagen und zeigen – etwa durch Blickverhalten, Zögern oder nicht intendierte Klicks. Besonders in Usability-Tests oder Feldbeobachtungen eröffnet diese Methode einen tiefen Einblick in kognitive Prozesse und Interaktionsprobleme.
Warum Videoanalyse sinnvoll ist
Während Live-Beobachtungen häufig durch ihre Flüchtigkeit begrenzt sind, erlaubt die Videoanalyse eine wiederholte, zeitlich präzise Betrachtung einzelner Verhaltensabschnitte. Gerade nonverbale Reaktionen, wie Stirnrunzeln beim Lesen eines Labels oder der Rückzug der Hand nach einem Klick, lassen sich im Video besser erfassen und im Team diskutieren.

Beispiel: Eine Nutzerin klickt auf „Bestellen“ und zieht sofort die Hand zurück. In der anschließenden Analyse wird deutlich: Sie war unsicher, ob sie damit bereits einen Kauf abgeschlossen hat. Ein typischer UI-Friktionspunkt, der ohne Video unbemerkt geblieben wäre.
Wie läuft eine Videoanalyse ab?
Ein strukturierter Analyseprozess beginnt mit der Auswahl relevanter Aufnahmen – etwa bestimmter Testaufgaben oder auffälliger Sitzungen. Anschließend erfolgt die Transkription oder Beschreibung der Sequenzen. Dabei werden nicht nur gesprochene Aussagen, sondern auch Mausbewegungen, Interaktionen und Reaktionen notiert – häufig ergänzt durch Zeitstempel.
In der eigentlichen Codierung werden dann einzelne Ereignisse bestimmten Kategorien zugeordnet, etwa „Verwirrung“, „erfolgreich gelöst“, „Systemfeedback fehlt“ oder „unklares Wording“. Dieses Vorgehen kann deduktiv (anhand vordefinierter Kategorien) oder induktiv (aus dem Material heraus) erfolgen.
Beispielhafte Codierung:
– 00:01:45: Zögern vor Buttonklick – Nutzer:in liest Button-Text dreimal
– 00:03:10: Systemfeedback fehlt – kein Hinweis nach Klick auf „Senden“
– 00:05:30: Erfolg – Formular korrekt ausgefüllt und abgeschickt
Typische Anwendungskontexte
Die Videoanalyse kommt nicht nur im klassischen Usability-Test zum Einsatz. Sie ist auch in Remote-Tests mit aufgezeichneten Sessions oder in Feldstudien mit realer Nutzung im Alltag hilfreich. So kann etwa untersucht werden, wie Pendler:innen eine Navigations-App in der U-Bahn verwenden – inklusive Kontextfaktoren wie schlechte Internetverbindung, Hintergrundgeräusche oder einhändige Bedienung.

In explorativen Studien, etwa bei der Einführung neuer Technologien wie Sprachassistenten oder Mixed-Reality-Anwendungen, hilft die Videoanalyse, spontane Reaktionen und Nutzungsmuster zu verstehen, die vorher nicht antizipiert wurden.
Tools und Plattformen
Je nach Analysetiefe und Teamstruktur kommen unterschiedliche Tools zum Einsatz:
- Lookback, PlaybookUX oder UsabilityHub bieten einfache integrierte Recording- und Tagging-Funktionen.
- Für komplexere Auswertungen werden Dovetail, Airtable, Taguette oder wissenschaftliche Software wie MAXQDA, ATLAS.ti oder ELAN verwendet.
- In kleineren Teams reicht auch eine strukturierte Tabelle in Excel oder Google Sheets, in der Zeitstempel, Codes und Zitate dokumentiert werden.
Tipp aus der Praxis: Mit einer Farbcodierung für Kategorien (z. B. rot = Problem, grün = Erfolg) lässt sich schnell ein Muster erkennen – etwa wenn mehrere Testpersonen an derselben Stelle abbrechen.
Qualität sichern: Best Practices
Eine sorgfältige Videoanalyse lebt von klaren Kategorien und intersubjektiver Nachvollziehbarkeit. Es empfiehlt sich, ein gemeinsames Codierschema zu entwickeln und mehrere Personen unabhängig codieren zu lassen. Die Übereinstimmung der Codierungen (Interrater-Reliabilität) kann ein Hinweis auf die Robustheit der Analyse sein.
Wichtig ist zudem die Triangulation: Die Beobachtungen aus dem Video sollten mit anderen Quellen wie Interviewaussagen, Protokollen oder Metriken (z. B. Task Success Rate) kombiniert werden, um ein vollständiges Bild zu erhalten.
Datenschutzrechtlich ist zu beachten: Videoaufzeichnungen müssen anonymisiert oder mit ausdrücklicher Einwilligung gespeichert und verwendet werden. Vor allem im Remote-Kontext sollte dies transparent kommuniziert werden.
Fazit
Videoanalyse und Coding ermöglichen eine präzise, dichte Beschreibung der Nutzererfahrung, die weit über reine Metriken hinausgeht. Besonders bei komplexen Systemen, sensiblen Aufgaben oder unklaren UI-Momenten bietet dieses Verfahren die Möglichkeit, nutzerseitige Probleme detailliert und evidenzbasiert zu identifizieren – und daraus gezielte Optimierungen abzuleiten.
Videoanalyse in der Usability-Forschung
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Cho, S., Frost, A., Providenti, M., & Reichler, D. (2017). Visualizing usability testing video data. In International Conference on Design of Communication. https://doi.org/10.1145/3121113.3121237
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Prasse, M. J. (1990). The video analysis method: An integrated approach to usability assessment. Journal of Human Factors. https://doi.org/10.1177/154193129003400436